Die Brücke von Morgen
Der Balkon des kleinen Hotels Yaffo war nicht mehr als drei Quadratmeter groß, doch Samuel hatte das Gefühl, von hier aus die ganze Welt überblicken zu können. Die Herbstsonne hing tief über dem Mittelmeer. Goldenes Licht legte sich über die weißen Häuser von Jaffa, über die Silhouetten Tel Avivs und über den schmalen Landstreifen, der sich nach Süden zog – Gaza.
Samuel Goldstein war vierundsiebzig Jahre alt und zum ersten Mal in seinem Leben hier. Eine seltsame Ironie, dachte er, während er an seinem türkischen Kaffee nippte. Ein Wiener Jude, dessen Familie 1938 vor den Nazis geflohen war, der sein ganzes Leben der österreichischen Sozialdemokratie gewidmet hatte, und der nun, im Herbst seiner Tage, hier hergekommen war. Nicht aus religiösen Gründen – er war nie besonders fromm gewesen. Nicht einmal aus Zionismus, denn seine Heimat blieb Wien. Er war gekommen, weil ihn eine Frage umtrieb, die ihn seit Jahrzehnten nicht losließ.
Darüber hinaus brachte die Nacht keine Ruhe. Samuel träumte einen Traum, der brennender war als alle Hoffnungen:
Der Traum entfaltet sich wie ein langsamer Brand. Samuel steht inmitten einer Welt, die brennt. Kein Wasser löscht diese Flammen, kein Schrei vermag sie zu bannen. Es ist nicht seine Erinnerung, die ihn erfüllt – es ist das Gedächtnis der Menschheit, eingeschrieben wie ein offenes Buch, dessen Seiten von Rauch und Asche gefüllt sind.
Es ist der Morgen des 7. Oktober 2023.
Die Felder des Südens liegen friedlich, doch in einem Augenblick zerreißt ein Dröhnen die Stille. Junge Körper in Bewegung, ein Tanz, der abrupt von Maschinengewehren unterbrochen wird. Schreie färben den Sand dunkel. Samuel spürt, wie sich der Schrecken in die Erde gräbt, ein dunkler Same, der blind in alle Richtungen sprießt.
Er denkt an Kreisky, an seine ruhige Stimme, die von Dialog, Mäßigung und menschlicher Verantwortung spricht. Politik ist mehr als Macht – sie ist Verpflichtung. Kreisky glaubte daran, dass die Spirale der Gewalt durchbrochen werden kann. Samuel sieht, wie sie sich hier unaufhörlich dreht, und erkennt, dass Kreiskys Traum noch immer auf Erfüllung wartet – wie eine Brücke über der Asche.
Er erwachte schweißgebadet. Draußen vor seinem Fenster lag das wirkliche Jaffa, friedlich im Mondschein, aber in seinem Herzen brannte noch immer das Feuer des Traums.
In seinem Schoß lag ein abgegriffenes Buch, dessen Umschlag längst verblasst war: Reden und Ansprachen Bruno Kreiskys 1970-1983. Die Seiten waren voller Eselsohren und Notizen, manche mit Bleistift aus den siebziger Jahren, andere mit Kugelschreiber aus den achtziger und neunziger, wieder andere mit Filzstift aus jüngerer Zeit. Es war sein Buch, sein Begleiter, sein Kompass gewesen in all den Jahren, in denen er als Gemeinderat, als Landtagsabgeordneter, als Parteifunktionär versucht hatte, die Welt ein wenig besser zu machen.
„Man muss an die Vernunft glauben,“ murmelte er und schlug eine Seite auf, die er auswendig kannte, „auch wenn die Vernunft schwach ist.“ Kreiskys Stimme schien aus dem Papier zu ihm zu sprechen, jene warme, eindringliche Stimme, die er als junger Mann im Radio gehört hatte und die ihn geprägt hatte wie keine andere. Samuel schloss die Augen und atmete die salzige Luft ein. Irgendwo unter ihm hörte er die Geräusche des Abends: Stimmen auf Hebräisch und Arabisch, das Hupen der Autos, das Klappern von Geschirr aus einem Restaurant. Alles so normal, so alltäglich. Und doch lag über allem ein unsichtbares Gewicht, eine Spannung, die in der Luft zu knistern schien.
Als er die Augen wieder öffnete, war die Sonne fast untergegangen. Die Schatten wurden länger, und Samuel spürte, wie sich in ihm etwas regte – ein Gefühl, das er lange nicht mehr gehabt hatte. Es war nicht Hoffnung, nicht genau. Es war etwas anderes. Ein Drang. Ein Bedürfnis zu erzählen.
In seinem Koffer lag ein leeres Notizbuch, das er mitgenommen hatte, ohne genau zu wissen warum. Nun stand er auf, holte es heraus und setzte sich wieder auf den Balkon. Die ersten Sterne erschienen am Himmel, und Samuel begann zu schreiben. Nicht über das, was war, sondern über das, was sein könnte.
Wenn die Welt in Asche liegt, schrieb er in sein Notizbuch, muss man lernen, die Asche zu säen. Nur dann kann ein Morgen entstehen.
Samuel war kein Politiker mehr, nur ein Rentner, doch er erkannte: aus der Asche der Vergangenheit konnte eine neue Zukunft erwachsen. In langen Nächten begann er, in Notizbüchern eine Novelle zu entwerfen, nicht über das, was war oder ist, sondern über das, was sein könnte – eine Brücke über der Asche.
Die Hauptstadt der beiden Sonnen
Jerusalem, im Jahr 2035
Die Morgensonne warf lange Schatten über die Davidstraße, als Layla Mansour aus dem Bus stieg. Sie trug eine dunkelgrüne Aktentasche und einen Ausweis um den Hals, auf dem stand: Parlamentsabgeordnete – عضو البرلمان – Member of Parliament. Die Stadt ist dreisprachig geworden, das Miteinander spürbar.
Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der kühlen Luft des Jerusalemer Winters, während sie sich durch die belebten Straßen zum Regierungsviertel aufmachte. Die Stadt hatte sich verändert, seit sie ein Kind war. Die Schilder an den Geschäften waren dreisprachig, Hebräisch, Arabisch und Englisch, und auf den Straßen mischten sich die Sprachen so natürlich wie Wasser und Wein. Ein Bäcker rief auf Arabisch nach seinem hebräisch sprechenden Nachbarn, eine Gruppe Schulkinder sang ein Lied, dessen Strophen zwischen beiden Sprachen wechselten – „Yom tov, Layla!“ rief eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und sah Avraham Rosen, ihren Kollegen aus der Infrastrukturkommission. Der orthodoxe Jude mit seinem grauen Bart und den Schläfenlocken eilte mit schnellen Schritten auf sie zu.
„Sabah al-kheir, Avraham,“ antwortete sie lächelnd. „Auch schon so früh unterwegs?“
„Die Wasserleitungspläne für Gaza warten nicht,“ sagte er und strich sich über den Bart. „Und du? Die Bildungsreform?“
„Genau. Heute stimmen wir ab.“ Layla’s Stimme wurde ernster. „Zwölf Jahre haben wir gebraucht, um hierhin zu kommen. Manchmal kann ich es selbst nicht glauben.“
Sie gingen gemeinsam weiter, vorbei an den Cafés, in denen Menschen bei Shakshuka und Hummus die Morgenzeitungen lasen. Die Schlagzeilen handelten von den üblichen politischen Diskussionen – Haushaltsfragen, Umweltschutz, Bildungspolitik. Normale Probleme eines normalen Landes.
Das Haus der Kulturen erhob sich vor ihnen wie ein steinerner Traum. Der Rundbau aus hellem Jerusalemer Stein war das Herzstück der neuen Hauptstadt, ein Parlament, in dem zum ersten Mal in der Geschichte dieser Region Palästinenser und Israelis als gleichberechtigte Abgeordnete des gleichen Staates tagten. Über dem Eingang prangte das Wappen von Al-Qantara – ein stilisierter Bogen in den Farben Blau, Grün und Weiß, der eine Brücke über Wasser darstellte.
„Ich denke manchmal an meinen Großvater,“ sagte Layla, während sie die breiten Stufen hinaufstiegen. „Er hat mir erzählt, wie er als junger Mann durch Checkpoints musste, um von Gaza hierher zu kommen. Stundenlange Warteschlangen, Leibesvisitationen, Demütigungen.“
Avraham nickte nachdenklich. „Mein Vater war Soldat in jener Zeit. Er hat mir erzählt, wie sehr er es gehasst hat, diese Kontrollen durchführen zu müssen. ‚Kein Mensch sollte einem anderen Menschen die Würde nehmen müssen‘, hat er gesagt.“
Im Inneren des Gebäudes herrschte bereits geschäftiges Treiben. Abgeordnete eilten durch die Korridore, Assistenten trugen Stapel von Dokumenten, Journalisten führten Interviews vor laufenden Kameras. Das große Foyer war erfüllt vom Gemurmel verschiedener Sprachen, vom Klappern von Absätzen auf Marmor und dem leisen Summen der Klimaanlage.
Layla betrat ihren Büroraum im dritten Stock. Von hier aus hatte sie einen perfekten Blick über die Altstadt, deren Kuppeln und Minarette im Morgenlicht golden schimmerten. An den Wänden hingen Fotos: ihre Großmutter mit dem Schlüssel zu dem Haus in Haifa, das die Familie 1948 verlassen musste; ihre Eltern bei der Eröffnung der ersten palästinensisch-israelischen Universität; sie selbst bei ihrer Vereidigung vor fünf Jahren.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Gedanken. Ihr Assistent, ein junger Mann namens Yussuf, streckte den Kopf herein.
„Entschuldigung, Frau Mansour. Die Fraktionssitzung beginnt in zehn Minuten.“
„Danke, Yussuf. Ich komme.“
Der Fraktionssaal der Partei der Versöhnung war ein mittlerweile vertrauter Ort. Dreißig Abgeordnete aus beiden Völkern, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die Spaltung zu überwinden und eine gemeinsame Zukunft zu bauen. An der Stirnseite des Raumes hing ein Porträt von David Ben-Gurion neben einem von Yasser Arafat – nicht als Helden, sondern als Erinnerung an eine Zeit, die nie wiederkehren sollte.
„Kolleginnen und Kollegen,“ begann Miriam Chen, die Fraktionsvorsitzende, „heute ist ein historischer Tag. Nach zwölf Jahren Arbeit stimmen wir über die Bildungsreform ab. Zum ersten Mal werden palästinensische und israelische Kinder in denselben Schulen unterrichtet, lernen dieselbe Geschichte aus verschiedenen Perspektiven und werden beide Sprachen sprechen lernen.“
Ein Gemurmel ging durch den Raum. Layla sah die Gesichter ihrer Kollegen – manche stolz, manche nervös, alle bewegt. Sie dachte an ihre eigene Schulzeit in Gaza, an die provisorischen Klassenräume, die überfüllten Klassen, die Geschichtsbücher, die nur eine Seite der Geschichte erzählten.
„Ich möchte etwas sagen,“ meldete sie sich zu Wort. Die Gespräche verstummten. „Meine Großmutter hat mir einmal erzählt, dass sie als Kind davon geträumt hat, Lehrerin zu werden. Aber der Krieg kam, und sie musste fliehen. Jahrzehntelang hat sie in einem Flüchtlingscamp gelebt und konnte diesen Traum nie verwirklichen.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Sie ist vor drei Jahren gestorben, ein Jahr bevor Al-Qantara gegründet wurde. Sie hat es nicht mehr erlebt. Aber wenn ich heute für diese Reform stimme, dann auch für sie.“
Avraham nickte ihr zu. „Meine Geschichte ist anders, aber das Gefühl ist dasselbe. Mein Sohn geht jetzt in die erste gemeinsame Klasse hier in Jerusalem. Letzte Woche kam er heim und erzählte, er habe einem palästinensischen Freund beim Hebräisch geholfen – und der habe ihm dafür ein paar arabische Wörter beigebracht. Für ihn ist das völlig selbstverständlich.“ Er lächelte. „Vielleicht ist es das ja auch.“
In der großen Plenarsitzung am Nachmittag war die Atmosphäre elektrisierend. Samuel saß als Beobachter auf den Tribünen. Die Wände atmeten Geschichte, und er spürte zugleich sein Alter und seine Konzentration. Die Jahre lasteten auf seinem Körper, doch sein Geist war hellwach. Machiavelli mahnt: Es ist sicherer, gefürchtet als geliebt zu werden, dachte er und erinnerte sich an die Gewalt der letzten Jahre, die noch immer nachhallte. Aber Kreisky hatte eine andere Vision: Sicherheit ohne Gerechtigkeit ist nur Schein. Wer den Frieden will, muss Furcht überwinden, nicht mehren.
Die Tribünen waren bis zum letzten Platz besetzt, Schulklassen aus dem ganzen Land waren angereist, um diesem historischen Moment beizuwohnen. Fernsehkameras übertrugen die Sitzung live in alle Welt.
Parlamentspräsident Omar Khalil, ein besonnener Mann mittleren Alters aus Ramallah, eröffnete die Debatte. „Wir sind heute hier versammelt, um über ein Gesetz abzustimmen, das mehr ist als nur Bildungspolitik. Es ist ein Bekenntnis zu unserer gemeinsamen Zukunft.“
Die Rednerliste war lang. Abgeordnete aller Fraktionen meldeten sich zu Wort – die einen voller Begeisterung, andere mit Bedenken, wieder andere mit konkreten Änderungsvorschlägen. Es war Demokratie in ihrer reinsten Form, lebendige Meinungsbildung, leidenschaftlicher Streit um die beste Lösung.
Als Layla ans Rednerpult trat, wurde es still im Saal. Sie hatte sich diese Worte hundertmal überlegt, hatte sie vor dem Spiegel geübt, hatte mit Freunden und Familie diskutiert. Nun stand sie hier, vor den Vertretern eines Landes, das es noch vor einem Jahrzehnt nicht gegeben hatte.
„Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir sind zwei Stränge einer Geschichte – und doch teilen wir ein Morgen.
Meine Großmutter erzählte mir von der Nakba, dem Verlust unserer Heimat. Herr Rosen hier trägt die Erinnerung an den Holocaust in seiner Familie. Zwei Völker, beide geprägt von Leid, beide gezeichnet von Verlust – und doch beide am Leben.
Diese Reform ist mehr als ein Gesetz über Schulen. Sie ist ein Entschluss: dass unsere Kinder nicht den Hass erben, sondern die Sprache des Anderen.
Wiedergutmachung heißt nicht Reue, sondern Saat. Heute säen wir.“
Der Saal applaudiert. Draußen atmet die Stadt auf.
„Normalität. Ein Wort, das lange unvorstellbar war“, denkt Layla.
Die Abstimmung war deutlich: 187 Stimmen für die Reform, 23 dagegen, 15 Enthaltungen. Al-Qantara hatte sich für die Zukunft entschieden.
Am Abend saß Layla in einem kleinen Restaurant in der Altstadt. Das Beit Shalom – Haus des Friedens – war eine Institution geworden, ein Ort, wo sich Menschen aller Herkunft trafen, um zu essen, zu reden und zu lachen. Der Besitzer, Abu Mahmoud, war ein älterer Palästinenser, dessen Partnerin, Sarah, eine Israelin war. Ihre Ehe war einst ein Skandal gewesen, heute war sie ein Symbol.
„Na, wie fühlt sich eine Geschichtsmacherin?“ fragte Sarah, als sie Layla das Essen brachte – Hummus mit Falafel, dazu frisches Pitabrot und eingelegte Oliven.
„Müde,“ lachte Layla. „Aber gut. Es war der richtige Tag für einen solchen Beschluss.“
An einem Nebentisch saß eine Gruppe junger Leute, palästinensische und israelische Studenten, die lebhaft auf Arabisch und Hebräisch durcheinander diskutierten. Sie redeten über Musik, über ihre Studienpläne, über eine geplante Reise nach Europa. Ganz normale junge Menschen mit ganz normalen Träumen.
„Wissen Sie was das Schönste ist?“ sagte Abu Mahmoud, der sich zu ihr gesellte. „Meine Enkelin wird in eine Schule gehen, in der sie sowohl ihre arabischen Wurzeln als auch ihre israelischen Klassenkameraden kennenlernen wird. Sie wird beide Sprachen sprechen, beide Kulturen verstehen. Für sie wird das normal sein.“
„Das ist es, wofür wir kämpfen,“ nickte Layla. „Normalität.“
Als sie später durch die beleuchteten Straßen nach Hause ging, dachte sie an die langen Jahre zurück, die zu diesem Tag geführt hatten. An die endlosen Verhandlungen, die Rückschläge, die Momente der Verzweiflung, in denen alles unmöglich erschien. An die mutigen Menschen auf beiden Seiten, die nie aufgegeben hatten zu glauben, dass eine andere Zukunft möglich war.
Die Straßenlaternen warfen warme Kreise auf den Asphalt, und in der Ferne konnte sie die Lichter von Gaza sehen, die wie Sterne am Horizont funkelten. Morgen würde sie dorthin fahren, um mit den Kollegen über die neuen Schulbauprojekte zu sprechen. Es würde eine Fahrt von einer halben Stunde sein, ohne Checkpoints, ohne Kontrollen, ohne Angst.
Normalität. Fragil, aber endlich möglich.
Samuel sieht sich in einer Höhle. An den Wänden flackern Schatten – keine Figuren, sondern Bilder, Posts, Schlagzeilen. Platon sprach von der Gefangenschaft des Geistes; heute ist es die ganze Welt, die im Halbdunkel lebt.
Bernays hatte recht: Manipulation ist Teil der Demokratie. Aber was geschieht, wenn die Schatten das Licht verdrängen?
‚Wer die Wahrheit sucht,‘ murmelte Samuel, ‚muss das Feuer löschen, das die Projektionen wirft.
Er muss den Dialog wagen.“ Er schrieb: Die Höhle ist nicht mehr nur ein Ort – sie ist die Welt. Wer sie verlassen will, muss nicht die Sonne suchen, sondern das Feuer löschen, das die Schatten wirft.
Der Hafen von Gaza
Gaza Stadt, drei Monate später
Der Ruf der Möwen weckte Amjad Zahra jeden Morgen um sechs Uhr. Er brauchte keinen Wecker mehr – seit vierzig Jahren fischte er im Mittelmeer, und sein Körper folgte dem Rhythmus der Gezeiten. Aber heute war anders. Heute würde er nicht hinausfahren. Von seinem kleinen Balkon aus konnte er den neuen Hafen überblicken, ein Wunderwerk aus Stahl und Beton, das sich dort erhob, wo früher nur ein kleiner Fischereianleger gewesen war. Containerbrücken, so hoch wie Kathedralen, hoben Waren aus den Bäuchen großer Schiffe. Lastwagen rollten über breite Straßen, Arbeiter in gelben Helmen koordinierten die Abläufe, und am Horizont zeichneten sich weitere Schiffe ab, die darauf warteten, entladen zu werden.
„Yalla, Opa, das Taxi wartet!“ rief seine Enkelin Nour aus dem Treppenhaus.
Amjad lächelte. Fünfzehn Jahre alt war sie, geboren in einer Zeit, als Gaza noch von Zäunen umgeben war. Für sie war es selbstverständlich, dass sie nach Jerusalem zur Schule fuhr, dass sie Hebräisch sprach wie eine Muttersprache, dass ihre beste Freundin Rivka hieß und in Tel Aviv wohnte. Für sie war die Welt ein großer, offener Ort voller Möglichkeiten.
Das Taxi – ein neues Elektrofahrzeug, das im Industriepark von Gaza montiert wurde – brachte sie zur Küste. Der Fahrer, ein junger Mann namens Khalil, plauderte unterwegs über die Veränderungen in der Stadt.
„Mein Bruder arbeitet jetzt in den neuen Solarfabriken,“ erzählte er. „Stellen Sie sich vor, die Panels, die hier in Gaza produziert werden, gehen nach Deutschland, nach Japan, sogar nach Amerika. Wer hätte das gedacht?“
Amjad nickte nachdenklich. Er erinnerte sich noch an die Zeit, als jede Ausfuhr kontrolliert, jede Einfuhr limitiert war. Als die Menschen hier wie in einem Käfig gelebt hatten, abgeschnitten von der Welt. Die Ironie war nicht zu übersehen: Ausgerechnet Gaza, die Gefangene von gestern, war heute einer der wichtigsten Handelshäfen des östlichen Mittelmeers geworden. Am Hafenbecken wartete bereits eine kleine Gruppe. Journalisten aus aller Welt waren gekommen, um über das „Gaza-Wunder“ zu berichten, wie sie es nannten. Aber auch Delegationen aus anderen Konfliktregionen – Nordirland, Zypern, dem Balkan – wollten lernen, wie aus einer belagerten Stadt ein blühender Handelsplatz werden konnte.
„Mister Zahra?“ Eine junge Frau mit Kamera und Mikrofon trat auf ihn zu. Sie sprach Englisch mit amerikanischem Akzent. „CNN. Können wir kurz mit Ihnen sprechen?“
„Natürlich,“ antwortete Amjad auf Arabisch. Nour übersetzte fließend.
„Sie waren vierzig Jahre lang Fischer. Heute ist Ihr alter Anleger Teil des neuen Containerhafens. Wie fühlt sich das an?“
Amjad blickte hinaus aufs Meer, wo früher seine Netze ausgelegt waren. „Wissen Sie,“ sagte er langsam, „das Meer hat viele Gesichter. Manchmal ist es wild und gefährlich, manchmal ruhig und freundlich. Aber es ist immer das gleiche Meer. Gaza hat sich verändert. Früher fühlte es sich wie ein Käfig an, heute ist es ein Tor zur Welt. Aber es sind dieselben Menschen, das gleiche Land, die gleiche Hoffnung.“
„Und Sie vermissen das Fischen nicht?“
Ein Lächeln huschte über sein wettergegerbtes Gesicht. „Sehen Sie das Boot dort drüben?“ Er zeigte auf einen kleinen Kutter, der zwischen den großen Containerschiffen fast winzig wirkte. „Das gehört meinem Sohn. Und das dort, das gehört meinem Neffen. Wir fischen immer noch. Aber jetzt können wir unseren Fang nicht nur auf dem lokalen Markt verkaufen. Letzte Woche ist eine Ladung frische Meeresfrüchte nach Rom geflogen worden. Stellen Sie sich vor – Fisch aus Gaza auf italienischen Tellern.“
Die Journalistin notierte eifrig. „Was ist das Geheimnis dieser Verwandlung?“
Amjad dachte einen Moment nach. „Es ist kein Geheimnis. Es waren Menschen, die aufgehört haben zu glauben, dass der andere ihr Feind ist. Menschen, die angefangen haben zu glauben, dass sie gemeinsam mehr erreichen können als getrennt.“
Später am Tag führte seine Enkelin Nour Besuchergruppen durch die neue Hafenanlage. Sie war stolz darauf, ihre Heimat zu zeigen, stolz auf das, was in wenigen Jahren entstanden war. Die Industrieanlagen erstreckten sich kilometerweit entlang der Küste: Textilbetriebe, Elektronikfabriken, Lebensmittelverarbeitung, Schiffswerften.
„Das Besondere ist,“ erklärte sie der Gruppe, während sie durch einen der Produktionshallen gingen, „dass diese Unternehmen Kooperativen sind. Niemand arbeitet für einen fremden Boss. Jeder Arbeiter ist Teilhaber, jeder Teilhaber ist Arbeiter.“
In der Halle produzierten Männer und Frauen verschiedener Herkunft Computerchips. Palästinenser aus Gaza arbeiteten Seite an Seite mit israelischen Ingenieuren aus Tel Aviv, mit Gastarbeitern aus Thailand und Vietnam, mit Spezialisten aus Deutschland und Südkorea.
„Wie ist das möglich geworden?“ fragte ein Besucher aus Belfast.
„Bildung,“ antwortete Nour ohne zu zögern. „Vor zehn Jahren haben wir hier die erste palästinensisch-israelische Technische Universität eröffnet. Heute studieren hier viertausend junge Menschen aus der ganzen Region. Sie lernen nicht nur Ingenieurwesen oder Betriebswirtschaft. Sie lernen auch, wie man zusammenarbeitet.“
Sie führte die Gruppe zu einem großen Fenster, das den Blick auf den Hafen freigab. Ein riesiges Containerschiff wurde gerade entladen, seine Ladung stammte aus China und würde über Gaza in den ganzen Nahen Osten verteilt werden.
„Sehen Sie das Logo dort?“ Sie zeigte auf die Seite des Schiffes, wo in großen Buchstaben stand: Al-Qantara Shipping. „Das ist unsere eigene Reederei. Die Schiffe gehören allen Bürgern von Al-Qantara gemeinsam. Die Gewinne fließen in Schulen, Krankenhäuser, Straßen.“
Ein alter Mann aus der Gruppe, ein ehemaliger IRA-Kämpfer aus Nordirland, schüttelte den Kopf. „Unglaublich. Wir haben dreißig Jahre lang gekämpft, und am Ende war die Lösung so einfach: miteinander reden statt übereinander.“
„Es war nicht einfach,“ korrigierte Nour. „Es hat lange gedauert. Viele Menschen mussten ihre Vorurteile überwinden. Viele mussten verzeihen. Manche konnten es nie.“
Sie gingen weiter zu einer großen Halle, in der ein besonderes Projekt zu Hause war: die Kooperative der Erinnerung. Hier arbeiteten ehemalige Kämpfer beider Seiten zusammen daran, die Geschichte ihrer Region aufzuarbeiten. Nicht um alte Wunden aufzureißen, sondern um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte und wie es nie wieder so weit kommen durfte.
„Das hier ist Hassan,“ stellte Nour einen älteren Mann vor, der an einem Computer arbeitete. „Er war früher bei der Hamas. Und das ist David. Er war bei der israelischen Armee.“
Hassan und David blickten von ihren Bildschirmen auf und lächelten. Sie arbeiteten gemeinsam an einem digitalen Archiv, das die Geschichte des Konflikts aus beiden Perspektiven erzählte.
„Am Anfang konnten wir uns nicht einmal ansehen, ohne wütend zu werden,“ erzählte Hassan. „Jeder von uns war überzeugt, dass der andere ein Monster war.“
„Heute sind wir Freunde,“ fügte David hinzu. „Nicht trotz unserer Geschichte, sondern wegen ihr. Wir wissen beide, wohin Hass führt. Deshalb arbeiten wir daran, dass die nächste Generation es besser macht.“ Am Abend saß Amjad mit seiner Familie beim Essen. Seine Frau Fatima hatte Fisch zubereitet, den ihr Sohn am Morgen gefangen hatte. Nour erzählte von den Besuchern, von ihren Fragen, von ihrer Bewunderung für das, was in Gaza entstanden war.
„Manchmal denke ich, wir träumen das alles nur,“ sagte Fatima leise. „Dass wir morgen aufwachen und wieder in der alten Zeit sind.“
Amjad nahm ihre Hand. „Das dachte ich auch lange. Aber heute war ich unten am Hafen und habe zugesehen, wie die Schiffe ein- und ausliefen. Ich habe die jungen Leute gesehen, wie sie arbeiten und lachen und Pläne schmieden. Das ist kein Traum. Das ist unsere neue Wirklichkeit.“
Durch das offene Fenster drangen die Geräusche der Stadt herein. Kinder spielten auf der Straße, irgendwo lief Musik, ein Verkäufer rief seine Waren aus. Die vertrauten Geräusche einer Stadt, die endlich wieder leben durfte.
„Weißt du, was das Schönste ist?“ sagte Nour plötzlich. „Die Kinder hier werden nie wissen, wie es war, eingesperrt zu sein. Für sie ist es normal, dass sie überallhin reisen können, dass sie Freunde in Tel Aviv und Jerusalem haben, dass die Welt ihnen offensteht.“
„Das ist gut so,“ nickte Amjad. „Jede Generation sollte freier sein als die vorige. Das ist der einzige Fortschritt, der zählt.“
Später, als die Familie im Wohnzimmer fernsah – eine Krimiserie, die in Al-Qantara spielte und in der ein palästinensischer Kommissar und eine israelische Staatsanwältin gemeinsam Fälle lösten –, klopfte es an der Tür.
Es war Abu Khalil, ein alter Freund Amjads, der früher auch Fischer gewesen war. In der Hand hielt er eine Zeitung.
„Habt ihr das schon gesehen?“ fragte er aufgeregt. „Wir sind auf der Titelseite der New York Times!“
Er breitete die Zeitung auf dem Tisch aus. Die Schlagzeile lautete: From Prison to Port: How Gaza Became the Middle East’s Miracle. Das Foto zeigte den Hafen bei Sonnenuntergang, mit den Containerbrücken als schwarze Silhouetten vor dem orange-roten Himmel.
„Lies vor,“ bat Fatima.
Abu Khalil setzte seine Lesebrille auf: „’In einer Region, die für Konflikt und Verzweiflung berühmt ist, hat sich Gaza in einen Leuchtturm der Hoffnung verwandelt. Der neue Staat Al-Qantara zeigt der Welt, dass auch die tiefsten Wunden heilen können, wenn Menschen den Mut haben, aufeinander zuzugehen.'“
„Hört sich gut an,“ murmelte Amjad. Aber innerlich war er skeptisch gegenüber all dem Lob aus der Ferne. „Hoffentlich vergessen sie nicht zu erwähnen, wie schwer es war. Wie viele Menschen dafür gekämpft haben. Wie viele Rückschläge wir hatten.“
„Das steht auch drin,“ sagte Abu Khalil und las weiter: „’Der Weg war nicht leicht. Noch vor zehn Jahren schien eine Lösung des Nahostkonflikts unmöglich. Extremisten auf beiden Seiten drohten jedem, der von Frieden sprach. Es brauchte eine neue Generation von Führern, Menschen, die bereit waren, die Risiken einzugehen, die Vergebung bedeutet.'“
Nour hörte aufmerksam zu. Diese Geschichte kannte sie aus Schulbüchern und von den Erzählungen ihrer Großeltern. Aber sie zu hören, während sie in ihrer warmen Wohnung saß, umgeben von ihrer Familie, erfüllt mit Plänen für die Zukunft, gab ihr ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit.
„Ich gehe morgen nach Jerusalem,“ sagte sie plötzlich. „Mit der Schule. Wir besuchen die Knesset.“
„Pass auf dich auf,“ sagte ihre Großmutter automatisch, ein Reflex aus alten Zeiten.
„Oma,“ lachte Nour, „es ist Jerusalem, nicht der Mars. In einer Stunde bin ich da.“
Fatima lächelte verlegen. „Entschuldige, Habibti. Manchmal vergesse ich, dass die Welt sich verändert hat.“
Draußen auf dem Balkon, während die anderen weiterlasen, stand Amjad allein und blickte über die Lichter seiner Stadt. Gaza bei Nacht war ein Meer aus Licht – die Hafenanlage, die Fabriken, die Wohnviertel, alles strahlte im warmen Schein der Straßenlaternen. In der Ferne sah er die Lichter von Tel Aviv und Jerusalem, nicht mehr wie fremde Sterne, sondern wie benachbarte Stadtteile einer großen, zusammengewachsenen Region.
Er dachte an seinen alten Freund Moshe, einen israelischen Fischer, den er vor Jahren kennengelernt hatte, als die ersten gemeinsamen Fischereikooperativen gegründet wurden. Morgen würden sie zusammen hinausfahren, ihre Netze würden Seite an Seite im Wasser liegen, ihre Kinder würden am Ufer auf sie warten.
„Das hättest du dir nie träumen lassen, nicht wahr?“ murmelte er zum nächtlichen Himmel, als spräche er mit den Geistern all jener, die diesen Tag nicht mehr erlebt hatten.
„In Wien verfolgte Samuel die Ereignisse über Zeitungen und Fernsehnachrichten. Er schrieb in sein Notizbuch: Die wahre Macht zeigt sich nicht darin, Schrecken zu verbreiten, sondern ihn zu überwinden.
Auch die Berichte aus Gaza las er aufmerksam und betrachtete sie wie Fenster in eine Welt, die er selbst nicht mehr bereisen konnte.“
Die Brücke des Wassers
Wüste Negev, sechs Monate später
Dr. Sarah Goldberg wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte über das weite Gelände der Entsalzungsanlage Mayim Shalom – Wasser des Friedens. Die Sonne stand hoch über der Negev-Wüste, und die Luft flimmerte über dem heißen Sand. Aber hier, inmitten dieser unwirtlichen Landschaft, war ein Wunder entstanden. Die Anlage erstreckte sich über mehrere Quadratkilometer: große Becken mit bläulich schimmerndem Meerwasser, kilometerlange Rohrleitungen, Pumphäuser und Reinigungsanlagen. Das Herzstück waren die Umkehrosmose-Filter, eine Technologie, die israelische Ingenieure entwickelt und palästinensische Arbeiter perfektioniert hatten. Täglich wurden hier hunderttausend Kubikmeter Salzwasser vom Mittelmeer in kostbares Trinkwasser verwandelt.
„Doctora Sarah!“ rief eine Stimme auf Arabisch. Sie drehte sich um und sah Ahmad Khalidi, den technischen Leiter der Anlage, auf sich zukommen. Der Palästinenser aus Hebron war Hydro-Ingenieur und hatte in Deutschland studiert, bevor er nach Al-Qantara gekommen war, um beim Aufbau der Wasserinfrastruktur zu helfen.
„Was gibt es, Ahmad?“ fragte sie auf Arabisch. Sie hatte die Sprache in den letzten Jahren gelernt – nicht aus politischen Gründen, sondern weil sie mit ihren Kollegen in deren Muttersprache kommunizieren wollte.
„Die Delegation aus Kalifornien ist angekommen. Sie warten im Konferenzraum.“ Sarah nickte. Fast täglich kamen Besucher aus aller Welt, um die Anlage zu besichtigen. Kalifornien litt unter einer schweren Dürre, und sie hofften, die Techniken von Al-Qantara adaptieren zu können. Der Konferenzraum war klimatisiert und bot eine Oase der Kühle. Die kalifornische Delegation bestand aus Ingenieuren, Politikern und Umweltaktivisten. Zwischen ihnen stand Samuel. Sie hörten aufmerksam zu, als Sarah die Funktionsweise der Anlage erklärte.
Während Samuel in Wien einen Artikel über den Svalbard Global Seed Vault las, wanderte seine Vorstellungskraft durch eisige Gänge voller Samen. Er schrieb in sein Notizbuch: Die Zukunft darf nicht in Tresoren lagern. Sie muss in Händen liegen.“ „Kreisky hätte gefragt,“ murmelte Samuel zu sich selbst, „darf Zukunft Eigentum weniger sein, oder ist sie Verpflichtung aller?“ Er verstand: Saat und Gesellschaft waren untrennbar. Wer Samen teilte, ermöglichte Leben; wer sie hortete, zwang das Morgen in Knechtschaft.
Er schrieb in sein Notizbuch:. Wer Samen hortet, beraubt die Gegenwart. Wer sie teilt, erschafft ein Morgen, das größer ist als er selbst.
„Das Besondere an unserem System,“ sagte Dr. Sarah Goldberg und klickte durch ihre Präsentation, „ist nicht nur die Technik. Es ist die Art, wie wir es entwickelt haben. Diese Anlage gehört nicht einem Unternehmen oder einer Regierung. Sie gehört allen Bürgern von Al-Qantara gemeinsam. Jeder Tropfen Wasser, der hier produziert wird, fließt in ein gemeinsames Netz.“
Eine Frau aus der Delegation hob die Hand. „Wie haben Sie es geschafft, dass alle Beteiligten kooperiert haben? Wasser ist doch normalerweise ein Streitthema in Ihrer Region.“
Sarah lächelte. „Sie haben recht. Wasser war lange Zeit eine Waffe. Jede Seite beschuldigte die andere, zu viel zu verbrauchen oder den Zugang zu kontrollieren. Aber dann kam der Wendepunkt.“
Sie zeigte ein Foto auf der Leinwand: eine Gruppe von Menschen verschiedener Herkunft, die mit Schaufeln in der Hand feierlich den Grundstein für die Anlage gelegt hatten.
„Das war vor fünf Jahren. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Region haben Palästinenser und Israelis gemeinsam ein Infrastrukturprojekt gestartet. Nicht als Geschenk von einer Seite an die andere, sondern als gemeinsames Unternehmen.“
Nach der Führung ging Sarah mit Ahmad durch die Außenanlagen. Die Nachmittagssonne war immer noch brennend heiß, aber hier und da spendeten neue Bäume Schatten – Palmen und Olivenbäume, die mit dem entsalzten Wasser bewässert wurden.
„Erinnerst du dich noch an den ersten Tag?“ fragte Ahmad.
Sarah lachte. „Wie könnte ich das vergessen? Du warst so skeptisch. Du dachtest, das würde nie funktionieren.“
„Ich hatte meine Gründe,“ antwortete Ahmad ernst. „Mein Dorf hatte jahrelang unter Wassermangel gelitten. Jeden Tag mussten wir schauen, ob genug da war. Ich konnte nicht glauben, dass die anderen plötzlich teilen wollten.“
Sie blieben an einem der großen Bassins stehen. Das Wasser glitzerte in der Sonne wie flüssiges Silber.
„Was hat dich überzeugt?“ fragte Sarah. Ahmad dachte einen Moment nach. „Es war nicht ein einziger Moment. Es waren viele kleine Zeichen. Als zum Beispiel Rivka,“ er nickte zu einer jungen israelischen Ingenieurin hinüber, die an einem der Kontrollpanels arbeitete, „als sie Arabisch gelernt hat, nur um mit den Arbeitern sprechen zu können. Oder als Youssef dort drüben,“ er zeigte auf einen palästinensischen Techniker, „seinen Sohn nach David Ben-Gurion benannt hat. Kleine Gesten, die gezeigt haben, dass wir wirklich zusammengehören.“ Sie gingen weiter zu dem Teil der Anlage, der Sarah am meisten stolz machte: dem Besucherzentrum. Hier konnten Schulklassen aus der ganzen Region lernen, wie Entsalzung funktioniert, wie wertvoll Wasser ist und wie wichtig es ist, Ressourcen gemeinsam zu verwalten. Gerade führte ein junger Mann eine Klasse von Grundschülern durch die Ausstellung. Die Kinder – Palästinenser und Israelis gemischt – hörten gebannt zu, wie er die verschiedenen Reinigungsstufen erklärte.
„Wer weiß, wie viel Wasser ein Mensch pro Tag braucht?“ fragte der Führer.
Ein Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen hob die Hand. „Drei Liter zum Trinken!“
„Das stimmt, Laila. Aber wie viel brauchen wir insgesamt? Zum Duschen, zum Kochen, zum Waschen?“
Ein Junge mit einer Kippa rief dazwischen: „Hundert Liter?“
„Sehr gut, David! Hier in Al-Qantara hat jeder Mensch Zugang zu hundert Liter sauberem Wasser pro Tag. Das ist mehr als die meisten Menschen auf der Welt haben.“ Sarah und Ahmad hörten zu und lächelten. Diese Kinder würden nie erleben, was ihre Großeltern durchgemacht hatten – die Angst, dass das Wasser knapp werden könnte, die Sorge, dass der andere einem etwas wegnehmen könnte.
„Das ist das wahre Wunder,“ murmelte Ahmad. „Nicht die Technik. Sondern dass wir gelernt haben zu teilen.“
Am späten Nachmittag fuhren sie gemeinsam nach Beersheba, einer Stadt, die zum Symbol für die neue Zusammenarbeit geworden war. Früher war Beersheba eine rein israelische Stadt gewesen. Heute lebten hier Menschen aller Herkunft zusammen, angezogen von den Arbeitsplätzen in der Wasser- und Solartechnik. Das Rathaus war ein modernes Gebäude aus Glas und Stein, in dem die Fahne von Al-Qantara neben den lokalen Symbolen hing. Hier fand gerade eine Stadtratssitzung statt, und Sarah und Ahmad waren eingeladen, über die Pläne für neue Wasserleitungen zu berichten. Bürgermeister David Levy, ein Israeli, der fließend Arabisch sprach, eröffnete die Sitzung auf beiden Sprachen. Neben ihm saß seine Stellvertreterin, Amina Nasser, eine Palästinenserin, die das Ressort Umwelt und Infrastruktur leitete.
„Liebe Bürgerinnen und Bürger,“ begann Levy, „wir sind heute zusammengekommen, um über ein Projekt zu sprechen, das unsere Stadt mit Wasser für die nächsten fünfzig Jahre versorgen wird.“
Sarah trat ans Rednerpult und entfaltete ihre Pläne. „Die neue Hauptleitung wird von der Entsalzungsanlage über hundert Kilometer durch die Wüste bis hierher führen. Unterwegs wird sie zwölf Gemeinden versorgen – israelische, palästinensische und Beduinendörfer.“
Ein älterer Mann in der ersten Reihe hob die Hand. „Was kostet das?“
„Die Gesamtkosten betragen etwa zweihundert Millionen Shekel,“ antwortete Ahmad. „Aber das wird durch die gemeinsame Wassersteuer aller Nutzer finanziert. Jeder zahlt nach seinen Möglichkeiten, jeder bekommt nach seinen Bedürfnissen.“
„Und wenn es Probleme gibt?“ fragte eine Frau. „Wer ist dann verantwortlich?“
Amina Nasser antwortete: „Das ist der Vorteil unseres Systems. Es gibt eine gemeinsame Verwaltung, in der alle Gemeinden vertreten sind. Entscheidungen werden demokratisch getroffen, Probleme werden gemeinsam gelöst.“
Nach der Sitzung saßen Sarah und Ahmad mit einigen Stadtratsmitgliedern in einem Café. Das Gespräch drehte sich um die Zukunft, um weitere Projekte, um die Herausforderungen des Klimawandels.
„Manchmal denke ich,“ sagte Levy nachdenklich, „wir sind zu einem Labor für die Zukunft geworden. Menschen aus aller Welt kommen hierher und wollen wissen, wie wir es geschafft haben. Als ob wir ein Rezept hätten.“
„Haben wir nicht?“ fragte Ahmad lächelnd.
„Doch, schon,“ antwortete Sarah. „Aber es ist kein einfaches Rezept. Es ist: zuhören, respektieren, teilen. Das schwierigste auf der Welt.“
Als sie am Abend zurück zur Entsalzungsanlage fuhren, stand der Mond schon hoch am sternklaren Himmel. Die Wüste lag still um sie herum, aber sie war nicht mehr leer. Hier und da sahen sie die Lichter kleiner Siedlungen, Orte, die nur existieren konnten, weil es jetzt genug Wasser für alle gab. An der Anlage angelangt, machten sie noch einen letzten Rundgang. Die Nachtsichtgeräte überwachten automatisch alle Systeme, aber Sarah wollte sicher sein, dass alles in Ordnung war. Es war ein Ritual, das sie nie aufgab – ein letzter Blick auf das Werk, das so viel mehr war als nur eine technische Anlage.
„Woran denkst du?“ fragte Ahmad.
„An meinen Vater,“ antwortete Sarah leise. „Er war auch Ingenieur. Er hat sein Leben damit verbracht, Brücken zu bauen – echte Brücken aus Stahl und Beton. Er hat immer gesagt, Brücken seien das Wichtigste, was Menschen schaffen können, weil sie Trennendes verbinden.“
Sie blickte über die Anlage, über die Rohrleitungen, die sich wie Arterien durch das Land erstreckten.
„Auch das ist eine Brücke – nicht aus Stein, sondern aus Wasser.“
Ahmad nickte. „Mein Großvater hat mir erzählt, dass in der Wüste derjenige überlebt, der sein Wasser teilt. Nicht derjenige, der es hortet.“
„Vielleicht,“ sagte Sarah, „mussten wir erst durch die Wüste, um das zu lernen.“
Sie standen eine Weile schweigend da und hörten dem leisen Rauschen des Wassers zu, das durch die Leitungen floss. Wasser, das aus dem salzigen Meer kam und als süßes Trinkwasser in die Häuser von Hunderttausenden Menschen floss. Wasser, das nicht mehr Grund für Streit war, sondern Quelle des Lebens für alle.
In der Ferne hörten sie das Summen der Solarpaneele, die tagsüber Energie gespeichert hatten und nun die Pumpen antrieben. Auch das war ein Symbol: die Sonne, die über allen schien, unabhängig von Herkunft oder Religion, gab allen die Kraft, zu überleben und zu gedeihen.
„Morgen kommt eine Delegation aus Australien,“ sagte Ahmad. „Die haben auch Probleme mit Dürre.“
„Gut,“ antwortete Sarah. „Je mehr Menschen lernen, dass Kooperation besser ist als Konkurrenz, desto besser für alle.“
Als sie das Gelände verließen, warf Sarah einen letzten Blick zurück. Die Anlage lag da wie ein schlafendes Tier, leise atmend, lebendig. Und sie wusste, dass sie auch in der Nacht weiterarbeiten würde, Wasser produzieren würde, Leben ermöglichen würde. Das war ihr Beitrag zur Brücke von morgen.
Die Versöhnungshalle
Ramallah, ein Jahr später
Die gläserne Halle erhob sich wie ein Kristall zwischen den Olivenbäumen von Ramallah. Das Beit al-Mussalaha, das Haus der Versöhnung, war das umstrittenste Bauwerk in ganz Al-Qantara gewesen, bevor es das wichtigste wurde. Hier, wo einst das Hauptquartier der palästinensischen Autonomiebehörde gestanden hatte, kamen nun jeden Tag Menschen zusammen, die sich nie hätten begegnen sollen: Opfer und Täter, Hinterbliebene und Überlebende, Menschen, die einander verletzt hatten und nun versuchten zu verstehen, wie Heilung möglich sein könnte. Dr. Rachel Stern saß in ihrem Büro im dritten Stock und blickte durch die bodentiefen Fenster auf die Hügel Judäas. Sie war Psychologin, spezialisiert auf Trauma und Konfliktbearbeitung, und seit drei Jahren leitete sie die Wahrheitskommission von Al-Qantara. Es war die schwierigste und wichtigste Arbeit ihres Lebens. Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Gedanken. Ihr Assistent, Mahmoud Khoury, streckte den Kopf herein.
„Entschuldigung, Dr. Stern. Frau Qasemi und Herr Goldmann sind da. Für die Anhörung um zwei Uhr.“
Rachel nickte und atmete tief durch. Fatima Qasemi und Uri Goldmann – diese beiden Namen standen für eine der schmerzhaftesten Geschichten in der langen Liste der Geschichten, die in diesem Haus erzählt wurden. Fatima hatte ihren siebzehnjährigen Sohn bei einem Bombenanschlag verloren. Uri war der Soldat gewesen, der den Checkpoint kontrolliert hatte, an dem der Anschlag verübt wurde.
„Sind beide bereit?“ fragte Rachel.
„So bereit, wie man für so etwas sein kann,“ antwortete Mahmoud leise.
Die Anhörungssäle der Wahrheitskommission waren bewusst schlicht gehalten: helle Wände, einfache Stühle, große Fenster, die viel Licht hereinließen. Keine Richtertische, keine erhöhten Podien, nichts, was Distanz oder Macht signalisierte. Nur Menschen, die sich gegenübersaßen und versuchten, ihre Wahrheit zu teilen.
Fatima Qasemi war eine kleine, zierliche Frau Ende fünfzig. Ihr Haar war von Kummer grau geworden, aber ihre Augen blickten klar und entschlossen. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid und hielt ein Foto in der Hand – ihren Sohn Ahmed beim Schulabschluss, lächelnd, die Zukunft vor sich.
Uri Goldmann war zwei Jahre jünger und wirkte gebrochen. Der ehemalige Soldat hatte breite Schultern und große Hände, aber er saß zusammengesunken auf seinem Stuhl, als würde er versuchen, unsichtbar zu werden. Seine Augen waren gerötet, und er zitterte unmerklich.
„Frau Qasemi,“ begann Rachel sanft, „möchten Sie anfangen?“
Fatima räusperte sich und blickte auf das Foto in ihren Händen. „Ahmed war mein jüngster Sohn. Er wollte Arzt werden. Jeden Morgen ist er zur Schule gegangen, nachmittags hat er in der Klinik als Praktikant geholfen. Er hat davon geträumt, Kindern zu helfen.“
Ihre Stimme wurde leiser, aber sie sprach weiter. „Am 15. März 2018 ist er nicht nach Hause gekommen. Es gab einen Bombenanschlag am Checkpoint Qalandiya. Sieben Menschen sind gestorben. Ahmed war einer von ihnen.“
Uri Goldmann presste die Lippen zusammen und starrte auf seine Hände.
„Ich habe drei Jahre lang gehasst,“ fuhr Fatima fort. „Ich habe alle Israelis gehasst, alle Soldaten, alle Menschen, die anders aussahen als wir. Ich habe von Rache geträumt.“
Sie hob den Kopf und sah Uri direkt an. „Bis ich herausgefunden habe, dass Sie nach dem Anschlag zusammengebrochen sind. Dass Sie nicht mehr schlafen konnten. Dass Sie Albträume hatten. Dass Sie sich schuldig fühlten, weil Sie die Bombe nicht verhindert hatten.“
Uri Goldmann schluckte schwer und hob langsam den Kopf. „Ich war neunzehn Jahre alt,“ flüsterte er. „Es war mein erster Einsatz an einem Checkpoint. Ich hatte Angst, ich war nervös. Als der Bombenträger kam, habe ich versagt. Ich hätte ihn aufhalten müssen, aber ich habe es nicht geschafft.“
Tränen liefen über sein Gesicht. „Ihr Sohn… Ahmed… er stand nur drei Meter von mir entfernt. Ich habe sein Gesicht gesehen, bevor… bevor es passierte. Er hat gelächelt. Er hat zu mir gelächelt.“
Die Stille im Raum war drückend. Rachel spürte, wie sich ihre eigene Kehle zusammenzog. Nach Jahren in diesem Job kannte sie viele Geschichten, aber manche berührten sie immer noch bis ins Mark.
„Herr Goldmann,“ sagte sie leise, „was möchten Sie Frau Qasemi sagen?“
Uri rang nach Worten. „Ich… ich weiß, dass Entschuldigung nicht genug ist. Ich weiß, dass nichts, was ich sage, Ihren Sohn zurückbringen kann. Aber ich möchte, dass Sie wissen, dass nicht ein Tag vergangen ist, an dem ich nicht an ihn gedacht habe. An sein Lächeln. An die Zukunft, die er nie haben wird.“
Er atmete zittrig ein. „Ich habe aufgehört zu leben nach jenem Tag. Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass das Ahmed nicht geholfen hätte. Dass ich ihm nur gerecht werden kann, wenn ich versuche, die Welt zu verbessern, in der er nicht mehr leben kann.“
Fatima betrachtete ihn lange. Dann, überraschend, reichte sie ihm das Foto ihres Sohnes.
„Sehen Sie ihn an,“ sagte sie. „Wirklich an. Das ist mein Ahmed. Er hätte Sie nicht gehasst. Er hätte gesagt: ‚Mama, dieser Soldat ist auch nur ein Mensch. Er hat einen Fehler gemacht, aber er ist kein schlechter Mensch.'“
Uri nahm das Foto mit zitternden Händen. „Er sieht aus wie mein kleiner Bruder,“ flüsterte er.
„Alle unsere Kinder sehen sich ähnlich,“ antwortete Fatima. „Deshalb dürfen wir sie nicht mehr gegeneinander hetzen.“
Nach der Anhörung saßen Rachel und Mahmoud in der Cafeteria der Versöhnungshalle. Draußen spielten Kinder auf dem Spielplatz, der zum Komplex gehörte – ein bewusst fröhliches Element in einem Ort, der sich mit den dunkelsten Kapiteln der menschlichen Natur beschäftigte.
„Wie machst du das jeden Tag?“ fragte Mahmoud. Er war erst seit sechs Monaten hier und kämpfte noch mit der emotionalen Belastung.
„Manchmal weiß ich es selbst nicht,“ antwortete Rachel ehrlich. „Aber dann passiert etwas wie heute. Fatima und Uri werden nie Freunde werden. Aber sie haben aufgehört, einander als Feinde zu sehen. Das ist schon viel.“
Sie trank einen Schluck Tee und blickte zu dem großen Wandbild, das die Geschichte von Al-Qantara erzählte – von den dunklen Jahren des Konflikts über das Trauma des 7. Oktober bis zur mühsamen Geburt des gemeinsamen Staates.
„Weißt du, was das Schwierigste war?“ fragte Rachel. „Nach dem 7. Oktober dachten alle, es sei endgültig vorbei. Die Bilder der Verwüstung, die Spirale der Rache – es schien unmöglich, dass daraus jemals etwas anderes entstehen könnte. Die Höhle war zu dunkel geworden.“
„Die Höhle?“
„Platos Höhlengleichnis. Die Menschen gefangen zwischen Schatten an der Wand und der Realität dahinter. Nach dem 7. Oktober waren die Schatten so übermächtig geworden – die Propaganda, die Hassrede, die Bilder des Schreckens –, dass niemand mehr die Sonne sehen konnte.“
Mahmoud nickte nachdenklich. „Aber irgendwann haben die Menschen doch das Feuer gelöscht, das die Schatten geworfen hat.“
Ein junger Mann betrat die Cafeteria und kam zu ihrem Tisch. Es war David Rosen, ein Absolvent der Friedensakademie von Al-Qantara, der als Mediator arbeitete.
„Dr. Stern, Mahmoud, wie geht es euch?“ fragte er auf Arabisch.
„Müde,“ antwortete Rachel lächelnd. „Aber zufrieden. Die Anhörung heute war schwer, aber wichtig.“
„Ich habe gehört. Fatima und Uri, nicht wahr? Das ist eine der Geschichten, die mir geholfen haben zu verstehen, warum diese Arbeit so wichtig ist.“
David setzte sich zu ihnen. Er war ein besonderer Fall – seine Eltern waren ultraorthodoxe Juden, die die Gründung von Al-Qantara abgelehnt hatten. Trotzdem oder gerade deshalb hatte er sich entschieden, sein Leben der Versöhnung zu widmen.
„Ich habe heute Morgen mit einer Schulklasse aus Hebron gesprochen,“ erzählte er. „Die Lehrerin wollte, dass die Kinder verstehen, wie der Friedensprozess funktioniert hat. Ein Junge hat gefragt: ‚Warum haben die Menschen früher gekämpft, wenn sie doch dieselbe Luft atmen?'“
„Eine gute Frage,“ meinte Mahmoud.
„Ja. Und schwer zu beantworten. Wie erklärst du einem Kind, dass Menschen sich hassen können, ohne einander zu kennen? Dass sie töten können für Ideen, die sie nie hinterfragt haben?“
Rachel nickte nachdenklich. „Deshalb ist eure Generation so wichtig. Ihr seid die Ersten, die in einem Al-Qantara aufgewachsen sind, in dem Kooperation normal ist. Ihr müsst den kommenden Generationen erklären, warum es nie wieder anders werden darf.“
Am frühen Abend verließ Rachel das Gebäude und ging durch die Altstadt von Ramallah. Die Straßen waren belebt, Händler verkauften frisches Obst und Gemüse, Cafés waren voller Menschen, die Backgammon spielten oder Wasserpfeife rauchten. Es war eine normale Stadt, mit normalen Menschen, die normale Leben führten.
Aber Rachel wusste, dass hinter vielen Türen Menschen lebten, die von den Wunden der Vergangenheit gezeichnet waren. Die Versöhnungsarbeit war ein langer, mühsamer Prozess, und nicht jeder war bereit oder in der Lage, ihn zu gehen.
Sie bog in eine kleine Seitengasse ein, in der sich das Restaurant Sababa befand – ein Ort, den sie oft aufsuchte, wenn sie Ruhe brauchte. Der Besitzer, Abu George, war ein Christ aus Bethlehem, der die besten Falafel weit und breit machte. Seine Frau Miriam, eine Jüdin aus Jerusalem, kümmerte sich um den Service.
„Ah, Doctora!“ rief Abu George, als sie eintrat. „Der übliche Platz?“
Rachel nickte und setzte sich an ihren Stammtisch in der Ecke. Von hier aus konnte sie die Straße beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Ein Privileg, das sie nach den langen Stunden des Zuhörens und Moderierens brauchte.
Miriam brachte ihr eine Portion Hummus mit warmem Pitabrot und ein Glas Minztee. „Harter Tag?“
„Jeder Tag ist hart,“ antwortete Rachel. „Aber heute war auch ein wichtiger Tag.“
Sie aß schweigend und ließ ihre Gedanken wandern. In wenigen Wochen würde die Wahrheitskommission ihren Jahresbericht veröffentlichen. Hunderte von Geschichten, die gesammelt und dokumentiert worden waren. Geschichten von Verlust und Schmerz, aber auch von Mut und Vergebung.
„Entschuldigung, sind Sie Dr. Stern?“
Rachel blickte auf. Vor ihrem Tisch stand ein älterer Mann mit einem weißen Bart. Er sprach Englisch mit deutschem Akzent.
„Ja, das bin ich. Kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin Professor Weber von der Universität München. Wir forschen über Transitional Justice, über Übergangsgerechtigkeit. Ich wollte Sie fragen, ob Sie Zeit für ein Interview hätten.“ Rachel war müde, aber sie nickte. Solche Gespräche gehörten zu ihrer Arbeit. Die Welt wollte verstehen, wie Al-Qantara funktionierte.
Professor Weber setzte sich. „Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs? In anderen Ländern, in Südafrika, in Kolumbien, haben Wahrheitskommissionen oft nur begrenzte Wirkung gehabt.“ Rachel dachte einen Moment nach. „Ich glaube, es liegt daran, dass wir nicht versucht haben, Gerechtigkeit zu schaffen. Wir haben versucht, Wahrheit zu schaffen. Und Wahrheit ist immer komplexer als Gerechtigkeit.“
„Können Sie das erklären?“
„Gerechtigkeit setzt voraus, dass es eindeutige Opfer und eindeutige Täter gibt. Aber in einem Konflikt wie unserem ist jeder beides. Jeder hat verloren, jeder hat anderen Schaden zugefügt. Wenn wir versucht hätten, Schuldige zu bestrafen, hätten wir endlos gestritten. Stattdessen haben wir versucht zu verstehen.“
Professor Weber notierte eifrig. „Aber gab es keine Forderungen nach Bestrafung?“
„Natürlich. Aber die meisten Menschen wollten vor allem eines: verstehen, warum es passiert ist. Warum ihr Kind sterben musste. Warum ihr Haus zerstört wurde. Warum sie ihr Leben lang Angst haben mussten. Wenn sie das verstanden hatten, war oft der Wunsch nach Rache verschwunden.“
„Und die, die nicht vergeben konnten?“
Rachel seufzte. „Die gibt es auch. Manche Wunden sind zu tief. Manche Schmerzen zu groß. Wir zwingen niemanden zur Vergebung. Aber wir bieten einen Ort, an dem sie möglich wird.“
Als Professor Weber gegangen war, saß Rachel noch lange allein in dem kleinen Restaurant. Abu George hatte das Radio angemacht, und leise Musik erfüllte den Raum – eine Mischung aus arabischen und hebräischen Liedern, wie sie in Al-Qantara üblich geworden war.
Ihr Handy vibrierte. Eine Nachricht von Uri Goldmann: Danke für heute. Ich werde das Foto von Ahmed in Ehren halten.
Rachel lächelte. Solche Nachrichten machten die schweren Tage erträglich. Sie wusste, dass Uri und Fatima wahrscheinlich nie wieder Kontakt haben würden. Aber sie hatten beide einen wichtigen Schritt getan: Sie hatten aufgehört, einander zu hassen.
Als sie schließlich nach Hause fuhr – sie lebte in einem kleinen Apartment in der Nähe der Universität von Al-Qantara –, dachte sie an die Worte von Fatima: Alle unsere Kinder sehen sich ähnlich. Deshalb müssen wir aufhören, sie gegeneinander kämpfen zu lassen.
Das war es, was die Versöhnungshalle letztendlich erreichen wollte: nicht zu vergessen, was geschehen war, aber zu verhindern, dass es sich wiederholte. Jede Geschichte, die hier erzählt wurde, jede Träne, die hier geweint wurde, jede Umarmung zwischen ehemaligen Feinden war ein Baustein für eine Zukunft, in der Kinder nicht mehr für die Vergangenheit bezahlen mussten. In ihrem Apartment angekommen, setzte sich Rachel an ihren Schreibtisch und öffnete ihren Laptop. Der Jahresbericht wartete noch auf die letzten Ergänzungen. Sie begann zu schreiben:
„Die Wahrheit ist kein Ereignis, sondern ein Prozess. Sie entsteht nicht durch Gerichtsbeschlüsse oder parlamentarische Abstimmungen, sondern in den stillen Momenten, in denen Menschen aufhören, einander als Feinde zu betrachten und anfangen, einander als Menschen zu sehen. In diesem Jahr haben wir 347 solcher Momente dokumentiert. Das mag wenig erscheinen in einem Land von zwölf Millionen Menschen. Aber jeder einzelne dieser Momente ist ein Licht, das die Dunkelheit ein wenig heller macht.“
Draußen vor ihrem Fenster lag Ramallah in der warmen Nacht. Irgendwo spielte jemand Oud, die arabische Laute, und die Melodie mischte sich mit dem fernen Verkehrslärm zu einem Lied. Normal, friedlich, hoffnungsvoll. Es war die Normalität, für die so viele Menschen so lange gekämpft hatten.
In Wien liest Samuel die Berichte, legt die Zeitung beiseite und schreibt in sein Notizbuch:
Die wahre Macht zeigt sich nicht darin, Schrecken zu verbreiten, sondern ihn zu überwinden.
Die Jugend des neuen Staates
Haifa, zwei Jahre später
Der Fußball flog in einem perfekten Bogen über das Spielfeld und landete genau in den Armen von Torwart Yusuf Mansour. Der siebzehnjährige Palästinenser aus Nazareth grinste und warf den Ball zu seinem Kapitän weiter – David Ben-Ari, einem Israeli aus Haifa, dessen Großeltern aus Wien geflohen waren.
„Guter Fang!“ rief David auf Arabisch, während er den Ball für den Abstoß auflegte.
„Danke, habibi!“ antwortete Yusuf auf Hebräisch.
Die Al-Qantara Lions trugen Trikots in den Nationalfarben: Blau wie das Mittelmeer, Grün wie die Olivenhaine, Weiß wie die Friedenstaube. Sie waren die erfolgreichste Jugendmannschaft des Landes und sollten in zwei Wochen bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Junioren in Brasilien spielen – das erste Mal, dass Al-Qantara an einer internationalen Sportveranstaltung teilnahm.
Am Spielfeldrand stehen Trainer Ahmad Khalil und Moshe Cohen, beide einst Gegner, nun Kollegen.
„Konzentration, Leute!“ rief Ahmad. „Das hier ist nicht irgendein Training. In zwei Wochen seid ihr die ersten Botschafter von Al-Qantara auf der Weltbühne!“
Die Mannschaft bestand aus elf Jugendlichen verschiedener Herkunft: zwei Palästinenser und drei Palästinenserinnen, drei Israelis und eine Israelin, ein Beduine und eine Armenierin. Sie kannten sich seit Jahren, hatten zusammen in der Fußballakademie von Haifa trainiert, waren zusammen zur Schule gegangen, hatten zusammen Siege gefeiert und Niederlagen verkraftet.
„Hör mal, David,“ sagte Yusuf, als sie nach dem Training in der Kabine saßen, „denkst du manchmal daran, wie es wäre, wenn wir in der alten Zeit gelebt hätten?“
David Ben-Ari zog sein verschwitztes Trikot aus und dachte nach. „Du meinst, früher, als es zwei Teams gab? Schwer vorstellbar. Du bist mein bester Freund – wieso hätten wir gegeneinander spielen sollen?“
„Mein Opa erzählt manchmal Geschichten,“ sagte Yusuf leise. „Von früher. Als er nicht nach Haifa durfte, als ihr nicht nach Gaza durftet. Es klingt wie ein schlechter Film.“ „Meine Oma auch,“ nickte David. „Sie sagt immer, sie verstehe nicht, warum die Menschen so lange gebraucht haben, um zu begreifen, dass sie zusammengehören.“ Sarah Khoury, eine der Spielerinnen im Team – Al-Qantara war eines der ersten Länder der Welt mit gemischten Jugendmannschaften –, hörte mit und lächelte. „Vielleicht mussten sie erst uns bekommen, damit sie es verstehen.“ Am Abend trafen sich die Spieler wie jeden Freitag im Youth Center von Haifa, einem Jugendzentrum, das zum Symbol für das neue Al-Qantara geworden war. Hier kamen nicht nur Fußballer zusammen, sondern junge Menschen aller Interessensbereiche: Musiker, Programmierer, Künstler, Umweltaktivisten. Das Gebäude war ein umgebauter Hangar aus den sechziger Jahren, jetzt voller Leben und Kreativität. An den Wänden hingen Kunstwerke von Jugendlichen aus der ganzen Region, eine Mischung aus traditionellen arabischen und hebräischen Motiven mit modernen, internationalen Einflüssen.
In einer Ecke probte eine Band – zwei Palästinenser an Oud und Darbouka, ein Israeli am Schlagzeug, eine äthiopische Jüdin am Bass. Ihre Musik war eine neue Art von World Music, die es nur in Al-Qantara gab: eine Verschmelzung verschiedener Traditionen zu etwas völlig Eigenem.
„Hey, Fußball-Stars!“ rief Layla Zahra, eine achtzehnjährige Programmiererin aus Gaza, die gerade an einem neuen Spracherkennungsalgorithmus arbeitete. „Bereit für Brasilien?“ „So bereit, wie man sein kann,“ antwortete David und setzte sich zu ihr. Layla war seine Freundin, aber das war nie ein Problem gewesen – weder für ihre Familien noch für ihre Freunde. In Al-Qantara war es normal geworden, dass junge Menschen verschiedener Herkunft zusammen waren. „Ich arbeite gerade an etwas Besonderem,“ erzählte Layla aufgeregt. „Ein Übersetzungsprogramm, das nicht nur Worte übersetzt, sondern auch kulturelle Nuancen. Stellt euch vor, jemand sagt auf Arabisch ‚Inshallah‘ und das Programm erklärt auf Hebräisch nicht nur, was es heißt, sondern auch, was es bedeutet – die ganze Philosophie dahinter.“
Yusuf war begeistert. „Das ist genial! Dann könnten Menschen aus verschiedenen Kulturen sich wirklich verstehen, nicht nur oberflächlich kommunizieren.“ „Genau das ist die Idee. Ich will das Projekt bei den Youth Innovation Awards einreichen.“ Die Youth Innovation Awards waren ein jährlicher Wettbewerb, bei dem junge Menschen aus Al-Qantara ihre Ideen für eine bessere Zukunft vorstellten. Die Gewinnerprojekte bekamen Förderung und Unterstützung, um sie zu verwirklichen. In einer anderen Ecke des Zentrums diskutierte eine Gruppe Jugendlicher über Umweltschutz. Der Klimawandel machte auch vor Al-Qantara nicht halt, und die junge Generation war entschlossen, die Fehler ihrer Eltern nicht zu wiederholen.
„Das Problem ist nicht nur die Technik,“ sagte Amara Khalil, eine Beduinin aus der Negev, die Umwelttechnik studierte. „Das Problem ist, dass Menschen immer noch denken, sie könnten getrennt von der Natur leben. Aber alles hängt zusammen – das Wasser, die Luft, das Land.“
„In der Schule haben wir gelernt,“ fügte Roi Shalev, ein Israeli aus einem Kibbuz, hinzu, „dass die größten Umweltprobleme entstehen, wenn Menschen nicht kooperieren. Wenn jeder nur an sich denkt.“
„Deshalb ist Al-Qantara so wichtig,“ meinte Amara. „Wir haben bewiesen, dass Kooperation möglich ist. Jetzt müssen wir das auf die ganze Welt übertragen.“
Später am Abend saßen David und Yusuf mit einigen anderen auf der Dachterrasse des Zentrums und blickten über die Lichter von Haifa. Die Stadt lag ausgebreitet unter ihnen wie ein funkelnder Teppich, und in der Ferne konnten sie die Lichter von Akkon und Nazareth sehen.
„Manchmal kann ich es immer noch nicht glauben,“ sagte David leise. „Dass das alles real ist. Dass wir hier sitzen können, zusammen, ohne Angst, ohne Hass.“
„Doch, es ist real,“ antwortete Yusuf. „Aber es ist auch zerbrechlich. Mein Vater sagt immer, jede Generation muss den Frieden neu erobern.“
Sarah, die sich zu ihnen gesellt hatte, nickte nachdenklich. „In der Schule haben wir über die Geschichte Europas gelernt. Wie sie jahrhundertelang Kriege geführt haben und dann plötzlich beschlossen haben, zusammenzuarbeiten. Aber es hat zwei Weltkriege gebraucht, bis sie es verstanden haben.“
„Wir hatten Glück,“ sagte ein anderer Jugendlicher, Omar aus Bethlehem. „Unsere Großeltern haben rechtzeitig begriffen, dass es so nicht weitergehen konnte.“
„Nein,“ widersprach David. „Es war kein Glück. Es waren mutige Menschen, die Risiken eingegangen sind. Menschen wie Bruno Kreisky, wie Willy Brandt, wie Nelson Mandela. Menschen, die gesagt haben: Es muss einen anderen Weg geben.“
Sie schwiegen eine Weile und lauschten den Geräuschen der Stadt unter ihnen. Verkehr, Musik aus verschiedenen Restaurants, das ferne Läuten einer Kirchenglocke, der Ruf eines Muezzins – alles vermischte sich zu einer Symphonie des Alltags.
„Was denkst du,“ fragte Yusuf schließlich, „werden unsere Kinder einmal so über uns reden? Werden sie sagen: Unsere Großeltern haben den Frieden geschaffen?“
„Nur wenn wir aufhören,“ antwortete Sarah mit einem Lächeln.
Eine Woche später war es soweit. Die Al-Qantara Lions saßen im Flugzeug nach São Paulo, bereit für ihr erstes internationales Turnier. Im Gepäck hatten sie nicht nur ihre Fußballausrüstung, sondern auch kleine Geschenke aus ihrer Heimat: Olivenöl aus Gaza, Honig aus Galiläa, handgemachte Karten mit Friedensbotschaften in verschiedenen Sprachen.
„Wisst ihr, worauf ich mich am meisten freue?“ fragte David, während sie über dem Atlantik flogen. „Auf die brasilianischen Mädchen?“ grinste Yusuf. „Und die Burschen!“ rief hinter dem Sitz eine Mitspielerin.
„Nein, du Idiot,“ lachte David. „Darauf, dass wir der Welt zeigen können, wer wir sind. Dass Al-Qantara nicht nur ein politisches Experiment ist, sondern ein Ort, an dem normale junge Menschen leben, die normale Träume haben.“ Trainer Ahmad, der eine Reihe hinter ihnen saß, hörte zu und lächelte. Er dachte an seine eigene Jugend zurück, als er für ein geteiltes Palästina gespielt hatte, als jedes Spiel gegen Israel ein politisches Ereignis gewesen war, als Sport und Politik untrennbar miteinander verknüpft gewesen waren.
Jetzt saß er hier mit einer Mannschaft, für die Politik nicht wichtiger war als für jeden anderen Jugendlichen auf der Welt. Sie dachten an Fußball, an Mädchen, an ihre Zukunft, an ihre Träume. Sie trugen die Fahne von Al-Qantara nicht als schwere politische Last, sondern als natürlichen Ausdruck ihrer Identität. Das war vielleicht der größte Sieg von allen: dass junge Menschen wieder jung sein konnten.
In São Paulo wurden die Al-Qantara Lions herzlich empfangen. Die anderen Mannschaften – aus Brasilien, Deutschland, Argentinien, Nigeria, Japan – waren neugierig auf die Neuankömmlinge aus dem Nahen Osten. „Al-Qantara?“ fragte der Kapitän der deutschen Mannschaft. „Ich habe davon gehört. Das ist das Land, das früher Israel und Palästina war, richtig?“
„Richtig,“ antwortete David. „Aber für uns ist es einfach unsere Heimat. Wir sind die erste Generation, die dort geboren wurde.“ „Ist es wahr, dass ihr alle verschiedene Sprachen sprecht?“ „Ja,“ antwortete Yusuf auf Deutsch, das er in der Schule gelernt hatte. „Wir sprechen alle Arabisch und Hebräisch. Und die meisten von uns sprechen auch Englisch, Spanisch oder Deutsch.“
Die deutschen Spieler waren beeindruckt. „Bei uns kann man froh sein, wenn jemand ordentlich Englisch spricht.“ Das erste Spiel war gegen Brasilien, die Gastgeber und Favoriten. Das Estádio do Pacaembu in São Paulo mit seinen 25000 Sitzen war ausverkauft, und die Atmosphäre war elektrisierend. Zum ersten Mal in der Geschichte stand eine Mannschaft aus Al-Qantara auf einem internationalen Spielfeld. Die Hymne von Al-Qantara erklang über das Stadion – ein neues Lied, das arabische und hebräische Textzeilen zu einer gemeinsamen Melodie verband. Die Spieler sangen mit, nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Stolz. Das Spiel war hart umkämpft. Brasilien war technisch überlegen, aber die Lions zeigten einen Kampfgeist und Teamzusammenhalt, der die Zuschauer begeisterte. In der 73. Minute gelang Yusuf nach einer perfekten Vorlage von David tatsächlich der Ausgleich zum 2:2. Das Stadion tobte. Auf der Tribüne schwenkten Al-Qantara-Fahnen neben brasilianischen, und die Kommentatoren der verschiedenen TV-Sender waren sich einig: Das war mehr als nur ein Fußballspiel. Das war ein Symbol für alles, was möglich war, wenn Menschen zusammenhielten. Nach dem Spiel tauschten die brasilianischen und die Al-Qantara-Spieler nicht nur Trikots, sondern auch Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Neue Freundschaften entstanden über Kontinente hinweg. „Das war unglaublich,“ sagte der brasilianische Kapitän zu David. „Ihr spielt nicht nur als Team, ihr seid ein Team. Man spürt, dass ihr für dasselbe kämpft.“
„Wir kämpfen für unsere Zukunft,“ antwortete David einfach. „Und für die Zukunft unserer jüngeren Geschwister.“ Obwohl die Al-Qantara Lions nicht das Turnier gewannen – sie schieden im Viertelfinale gegen Japan aus –, kehrten sie als Helden nach Hause zurück. Am Flughafen von Tel Aviv-Jaffa warteten Hunderte von Menschen, um sie zu begrüßen. Palästinenser und Israelis gemeinsam, Kinder mit selbstgemalten Plakaten, Familien mit Al-Qantara-Fahnen.
„Herzlich willkommen, unsere Champions!“ rief ein Reporter. „Wie fühlt es sich an, Geschichte geschrieben zu haben?“ David und Yusuf schauten sich an und grinsten. „Wir haben nicht Geschichte geschrieben,“ sagte David. „Wir haben einfach Fußball gespielt.“ „Aber das beste Fußballspiel unseres Lebens,“ fügte Yusuf hinzu.
In den folgenden Wochen wurden die Lions zu Botschaftern für Al-Qantara. Sie besuchten Schulen, sprachen mit Jugendgruppen, erzählten ihre Geschichte. Nicht die Geschichte des Nahost-Konflikts, sondern die Geschichte einer Generation, die ohne Grenzen in den Köpfen aufgewachsen war.
„Was ist euer Geheimnis?“ fragten die Kinder oft.
„Wir haben kein Geheimnis,“ antwortete Sarah dann immer. „Wir sind einfach wir selbst. Und wir haben gelernt, dass Unterschiede nicht trennen müssen, sondern bereichern können.“ Das war die Botschaft der neuen Generation von Al-Qantara: dass Normalität das größte Wunder war, das Menschen schaffen konnten.
Die Stimme Kreiskys
Wien, drei Jahre später
Samuel Goldstein sitzt in seiner Wohnung und blickt auf den Bildschirm. Neben ihm liegt das abgegriffene Notizbuch von Jaffa. Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Grübeleien. Es war seine Enkelin Lisa, eine Journalistin, die für den Standard arbeitete. „Opa, wie geht’s dir?“ „Geht schon. Ich sitze wieder vor diesem verdammten Computer und weiß nicht, wie ich anfangen soll.“ Lisa lachte. „Du machst es dir zu kompliziert. Erzähl einfach, was du erlebt hast. So, als würdest du mir die Geschichte erzählen.“ Samuel seufzte. „Aber wer interessiert sich schon für die Träume eines alten Sozialdemokraten?“ „Mehr Menschen, als du denkst. Die Welt hat genug schlechte Nachrichten. Sie braucht Geschichten, die Hoffnung machen.“ Nach dem Telefonat blieb Samuel noch lange sitzen. Draußen vor seinem Fenster lag Wien in der Herbstsonne – seine Stadt, seine Heimat, der Ort, an dem er sein ganzes Leben verbracht hatte. Aber in seinem Herzen trug er jetzt auch andere Bilder: den Hafen von Gaza bei Sonnenuntergang, die Kinder auf den Straßen von Jerusalem, die Lichter von Tel Aviv und Ramallah. Er klappte das Notizbuch auf und las seine ersten Aufzeichnungen von damals in Jaffa. Die Seiten waren vergilbt, die Tinte verblichen, aber die Worte schienen zu leben: „Man muss an die Vernunft glauben, auch wenn die Vernunft schwach ist.“ zitiert er Kreisky – und versteht es endlich: „Die Vernunft ist schwach, weil sie gegen die Macht der Angst ankämpfen muss. Aber sie ist stärker, weil sie die einzige Kraft ist, die Menschen vereinen kann.“
Er beginnt zu schreiben: nicht mehr den großen Roman, sondern seine Geschichte. Er schreibt von Layla, Amjad, Sarah, Rachel, den Jugendlichen. Er schreibt von Brücken aus Asche, aus Wasser, aus Erinnerung.
Und er schreibt für morgen.
Einige Stunden später
Die ersten Seiten flossen wie von selbst. Samuel schrieb über den Balkon in Jaffa, über seine erste Begegnung mit der Realität von Al-Qantara, über die Menschen, die er getroffen hatte. Er schrieb über Layla Mansour und ihre Rede im Parlament, über Amjad Zahra und seine Erzählungen vom Fischen, über die Wasserleitungen in der Negev-Wüste.
Aber je länger er schrieb, desto mehr merkte er, dass es nicht nur um Al-Qantara ging. Es ging um etwas Größeres. Es ging um die Frage, die ihn sein ganzes Leben beschäftigt hatte: Können Menschen lernen, friedlich zusammenzuleben? Das Telefon klingelte wieder. Diesmal war es ein Anruf aus Israel – nein, aus Al-Qantara. Dr. Rachel Stern von der Wahrheitskommission war am Apparat. „Herr Goldstein? Entschuldigen Sie die Störung. Ich habe Ihre Kontaktdaten von Layla Mansour bekommen. Sie hat mir erzählt, dass Sie ein Buch schreiben über uns?“ Samuel war überrascht. „Ich versuche es. Aber ich bin nicht sicher, ob daraus etwas wird.“
„Das ist der Grund, warum ich anrufe. Wir organisieren nächsten Monat eine Konferenz über Friedensbildung. Menschen aus der ganzen Welt kommen zusammen, um über unsere Erfahrungen zu diskutieren. Hätten Sie Lust, dabei zu sein? Als Zeitzeuge, als Beobachter?“ Samuel zögerte. Er war mehr als achtzig Jahre alt, die Reise würde anstrengend sein.
„Herr Goldstein,“ fügte Dr. Stern hinzu, „Layla hat mir erzählt, dass Sie ein Schüler Bruno Kreiskys waren. Wissen Sie, Kreisky ist hier zu einer Art Schutzpatron geworden. Seine Ideen von Verständigung und Kompromiss haben viele von uns inspiriert.“
Das gab den Ausschlag. „Gut,“ sagte Samuel. „Ich komme.“
Al-Qantara, vier Wochen später
Die Konferenz fand im Internationalen Zentrum von Jerusalem statt, einem neuen Gebäude, das symbolisch auf der alten Grünen Linie errichtet worden war – dort, wo einst die Mauer zwischen Ost- und Westjerusalem verlaufen war.
Samuel saß im Auditorium und hörte den Vorträgen zu. Wissenschaftler aus Südafrika sprachen über Versöhnung, Experten aus Nordirland über Friedensprozesse, Aktivisten vom Balkan über Vergangenheitsbewältigung. Aber die Geschichten, die ihn am meisten bewegten, waren die aus Al-Qantara selbst.
Yusuf Mansour, der Fußball-Torwart, der mittlerweile neunzehn war und Sportmanagement studierte, erzählte von seinen Erfahrungen bei internationalen Turnieren. „Die Leute erwarten immer, dass wir über Politik reden,“ sagte er. „Aber für uns ist Politik etwas anderes als für unsere Großeltern. Für uns bedeutet Politik, dass alle Kinder zur Schule gehen können, dass Krankenhäuser genug Medikamente haben, dass die Umwelt geschützt wird. Normale Politik eben.“ Layla Zahra, die Programmiererin aus Gaza, die mittlerweile ihr eigenes Tech-Startup gegründet hatte, sprach über die neue Generation der Unternehmer. „Wir denken nicht in nationalen Kategorien,“ erklärte sie. „Unser Markt ist die ganze Welt. Unsere Partner sind überall. Wir sind Al-Qantari, aber wir sind auch Weltbürger.“
Am bewegendsten war der Vortrag von Ahmad Khalil, dem Wasseringenieur. Er erzählte von einem Projekt, an dem er gerade arbeitete: einem Entsalzungsanlagen-Netzwerk, das von Al-Qantara bis nach Jordanien und Ägypten reichen sollte. „Wasser kennt keine Grenzen,“ sagte er. „Dürre kennt keine Grenzen. Armut kennt keine Grenzen. Warum sollten dann unsere Lösungen Grenzen kennen?“
Am letzten Tag der Konferenz wurde Samuel gebeten, selbst zu sprechen. Er hatte sich keine Rede vorbereitet, aber er trat ans Podium und sprach aus dem Herzen.
„Meine Damen und Herren,“ begann er mit zittriger Stimme, „ich bin ein alter Mann aus Wien, der sein ganzes Leben der Sozialdemokratie gewidmet hat. Bruno Kreisky war mein Vorbild, seine Ideen haben mich geprägt. Aber erst hier, in Al-Qantara, habe ich wirklich verstanden, was er gemeint hat.“
Er hielt inne und blickte in die Gesichter der Zuhörer – junge und alte Menschen aus aller Welt, vereint durch den Glauben an eine bessere Zukunft.
„Kreisky hat einmal gesagt: ‚Die Aufgabe der Politik ist es nicht, den Himmel zu versprechen, sondern die Hölle zu verhindern.‘ Das war lange Zeit mein Leitsatz. Aber heute, nach dem, was ich hier erlebt habe, würde ich hinzufügen: Die Aufgabe der Politik ist es auch, Brücken zu bauen. Und Menschen zu ermutigen, über diese Brücken zu gehen.“
Er erzählte von seinem ersten Besuch in Al-Qantara, von seinem Traum auf dem Balkon in Jaffa, von all den Menschen, die er kennengelernt hatte.
„Sie haben mich gelehrt,“ schloss er, „dass Utopien keine Träume sind, die niemals wahr werden. Sie sind Träume, die warten, bis Menschen mutig genug sind, sie zu verwirklichen.“
Der Applaus war lang und herzlich. Aber Samuel merkte kaum etwas davon. Er dachte an Bruno Kreisky, an die Gespräche, die sie in den siebziger Jahren geführt hatten, an die Hoffnungen und Enttäuschungen der österreichischen Politik. Er dachte daran, wie stolz Kreisky gewesen wäre, zu sehen, was aus seinen Ideen geworden war – nicht in Österreich, sondern hier, in diesem Land, das es zu seinen Lebzeiten noch nicht gegeben hatte.
Nach seinem Vortrag kamen viele Menschen zu ihm, wollten sich bedanken, wollten mehr hören, wollten Kontakte knüpfen. Ein junger Palästinenser aus Ramallah sagte: „Ihr Kreisky, hat er wirklich geglaubt, dass Juden und Araber zusammenleben können?“
„Nicht nur geglaubt,“ antwortete Samuel. „Er hat dafür gekämpft. Auch wenn er dafür kritisiert wurde.“
„Dann war er seiner Zeit voraus.“
Samuel lächelte. „Die besten Politiker sind immer ihrer Zeit voraus. Sie sehen, was möglich ist, auch wenn andere es noch nicht sehen können.“
Am Abend saß Samuel wieder auf einem Balkon – diesmal im Hotel in Jerusalem, mit Blick über die Altstadt. Die Lichter der Stadt funkelten wie Sterne, und in der Ferne konnte er die Umrisse des Tempelbergs erkennen, wo die heiligen Stätten der drei monotheistischen Religionen friedlich nebeneinander existierten.
Er öffnete sein Laptop und schrieb weiter an seinem Buch. Die Worte kamen jetzt leichter, als hätte die Konferenz einen Knoten in ihm gelöst. Er schrieb über die Stimme Kreiskys, die er in Al-Qantara überall gehört hatte – nicht als Echo aus der Vergangenheit, sondern als lebende Inspiration für die Gegenwart.
„Vielleicht,“ schrieb er, „ist das die größte Erkenntnis meiner Reise: dass große Ideen nicht mit ihren Denkern sterben. Sie leben weiter in den Menschen, die den Mut haben, sie zu verwirklichen. Kreiskys Vision von Verständigung und Koexistenz ist hier, in Al-Qantara, Wirklichkeit geworden – nicht perfekt, nicht ohne Probleme, aber real. Und das zeigt: Die Vernunft ist nicht schwach. Sie braucht nur Zeit.“
Ein leichter Wind wehte vom Mittelmeer herüber und brachte den Duft von Olivenbäumen mit. Samuel atmete tief ein und dachte an den langen Weg, der von Bruno Kreiskys Büro in Wien bis zu diesem Balkon in Jerusalem geführt hatte. Ein Weg von mehr als fünfzig Jahren, gegangen von Menschen verschiedener Völker, Religionen und Generationen, aber alle vereint durch denselben Traum: dass Menschen trotz aller Unterschiede in Frieden zusammenleben können.
„Danke, Bruno,“ murmelte er in die warme Nacht hinein. „Du hattest recht. Man muss an die Vernunft glauben.“
Der Traum bleibt
Wien, sechs Monate später
Samuel Goldstein stand vor dem Regal in der Buchhandlung Thalia in der Schottengasse und betrachtete das Cover seines Buches. Die Brücke von Morgen – so hatte er es schließlich genannt. Das Cover zeigte eine stilisierte Brücke über blauem Wasser, darüber die Farben von Al-Qantara: Blau, Grün und Weiß.
Es war ein seltsames Gefühl, sein erstes Buch im Alter von einundachtzig Jahren zu veröffentlichen. Die meisten Menschen seines Alters schrieben ihre Memoiren oder ihre Lebenserinnerungen. Aber Samuel hatte eine andere Art von Erinnerung geschrieben – die Erinnerung an eine Zukunft, die möglich geworden war.
„Herr Goldstein?“ Eine junge Frau mit Brille und Notizblock trat auf ihn zu. „Ich bin von der Presse. Könnten wir kurz sprechen?“
Samuel nickte. Seit das Buch vor zwei Wochen erschienen war, wollten plötzlich alle mit ihm reden. Das überraschte ihn. Er hatte mit vielleicht hundert verkauften Exemplaren gerechnet, aber sein Verleger sprach schon von einer zweiten Auflage.
„Was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?“ fragte die Journalistin.
Samuel dachte einen Moment nach. „Ich wollte zeigen, dass Utopien möglich sind. Dass Menschen nicht dazu verdammt sind, sich zu hassen. Dass die Vernunft am Ende doch stärker ist als die Angst.“
„Aber ist Al-Qantara nicht nur ein politisches Experiment? Wie nachhaltig ist das?“
„Das ist die falsche Frage,“ antwortete Samuel. „Die richtige Frage ist: Was können wir daraus lernen? Al-Qantara zeigt, dass Menschen verschiedener Herkunft zusammenleben können, wenn sie aufhören, einander als Feinde zu betrachten. Das ist eine Lektion für die ganze Welt.“
Nach dem Interview ging Samuel durch die Wiener Innenstadt. Es war ein warmer Frühlingstag, und die Straßen waren voller Menschen. Wien hatte sich in den letzten Jahren verändert – war bunter, vielfältiger geworden. In den Cafés hörte er verschiedene Sprachen, sah Menschen verschiedener Herkunft, die zusammen arbeiteten, lachten, lebten.
„Vielleicht,“ dachte er, „ist Al-Qantara gar nicht so einzigartig. Vielleicht passiert das überall, wo Menschen bereit sind, aufeinander zuzugehen.“
Am Abend war die Buchpräsentation im Literaturhaus. Samuel war nervös – öffentliche Auftritte waren nie seine Stärke gewesen. Aber der Saal war überraschend voll. Alte Sozialdemokraten, die ihn noch aus gemeinsamen Parteitagen kannten, saßen neben jungen Studenten und Nahost-Experten.
Dr. Wolfgang Petritsch, der ehemalige österreichische Diplomat, führte das Gespräch. „Herr Goldstein,“ begann er, „Sie beschreiben in Ihrem Buch eine Welt, die vielen utopisch erscheinen mag. Aber Sie waren dort. Sie haben es erlebt. Wie real ist Al-Qantara wirklich?“
Samuel nahm seine Brille ab und putzte sie – eine alte Angewohnheit, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte.
„Al-Qantara ist so real wie jeder andere Staat auch. Es gibt Steuern und Wahlen, Schulen und Krankenhäuser, Probleme und Lösungen. Was anders ist, das ist die Grundhaltung: dass Unterschiede bereichern können, statt zu spalten.“
„Aber es gab doch sicher auch Widerstand? Menschen, die das nicht wollten?“
„Natürlich,“ nickte Samuel. „Auf beiden Seiten gab es Extremisten, die lieber gekämpft hätten, als Kompromisse zu machen. Aber die Mehrheit war müde. Müde vom Krieg, müde vom Hass, müde von der Angst. Sie wollten einfach normal leben.“
Eine junge Frau im Publikum hob die Hand. „Aber wie können wir das auf andere Konflikte übertragen? Was ist die Lehre für uns?“
Samuel überlegte. „Die Lehre ist einfach zu sagen und schwer zu leben: Hört auf, den anderen als Feind zu sehen. Fangt an, ihn als Menschen zu sehen. Das klingt simpel, aber es ist revolutionär.“
Nach der Lesung bildete sich eine Schlange von Menschen, die sich das Buch signieren lassen wollten. Ein alter Mann, der sich als ehemaliger Zeitungsredakteur vorstellte, sagte: „Ich war 1973 dabei, als Kreisky Arafat empfangen hat. Damals haben alle gesagt, er sei verrückt. Heute sehen wir: Er war seiner Zeit voraus.“
Eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern meinte: „Ich möchte, dass meine Kinder in einer Welt aufwachsen, wie Sie sie beschreiben. Gibt es Hoffnung dafür?“
„Es gibt immer Hoffnung,“ antwortete Samuel. „Solange es Menschen gibt, die träumen und den Mut haben, ihre Träume zu leben.“
Später in der Nacht saß Samuel in seinem Wohnzimmer und blätterte durch sein Buch. Es war seltsam, die eigenen Gedanken gedruckt zu sehen, in sauberen Lettern zwischen festen Buchdeckeln.
Sein Handy klingelte. Es war ein Video-Anruf aus Al-Qantara. Das Display zeigte das Gesicht von Layla Mansour, der Parlamentsabgeordneten, die er vor Jahren kennengelernt hatte.
„Samuel! Ich habe gehört, dass Ihr Buch ein Erfolg ist!“ sagte sie strahlend.
„Es überrascht mich selbst,“ antwortete Samuel. „Wer hätte gedacht, dass sich jemand für die Träume eines alten Mannes interessiert?“
„Es sind nicht nur Ihre Träume. Es sind auch unsere. Und die Träume aller Menschen, die an eine bessere Welt glauben.“
Sie erzählte ihm von den neuesten Entwicklungen in Al-Qantara: Die Fußballmannschaft hatte sich für die nächste Weltmeisterschaft qualifiziert. Die Wirtschaft wuchs stetig. Die Universitäten zogen Studenten aus aller Welt an. Es gab Probleme – Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, politische Differenzen –, aber es waren normale Probleme eines normalen Landes.
„Das Wichtigste,“ sagte Layla, „ist, dass eine neue Generation heranwächst, für die unser Zusammenleben selbstverständlich ist. Meine Tochter ist jetzt fünf Jahre alt. Für sie ist es völlig normal, dass ihre beste Freundin Rivka heißt und Hebräisch spricht. Sie versteht nicht, warum das früher ein Problem war.“
Nach dem Gespräch blieb Samuel noch lange wach. Er dachte an den langen Weg, der von seinen ersten Notizen auf dem Balkon in Jaffa bis zu diesem Abend in Wien geführt hatte. Ein Weg voller Zweifel und Hoffnungen, voller Enttäuschungen und Überraschungen.
Er öffnete ein neues Dokument auf seinem Computer und begann zu schreiben. Nicht ein neues Buch – er war zu müde für ein weiteres großes Projekt. Aber einen Brief. Einen Brief an Bruno Kreisky, den Politiker, der ihn geprägt hatte.
„Lieber Herr Bundeskanzler,“ schrieb er, „Sie können das nicht lesen, aber ich muss es Ihnen trotzdem schreiben. Ihre Idee von der Verständigung, Ihr Glaube an die Vernunft, Ihr Mut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen – all das lebt weiter. Nicht nur in Österreich, sondern in einem Land, das es zu Ihrer Zeit noch nicht gab. Die Menschen dort kennen Ihren Namen vielleicht nicht, aber sie leben Ihre Ideen. Sie haben bewiesen, dass Sie recht hatten: Die Vernunft ist stärker als der Hass. Sie braucht nur Zeit und Menschen, die den Mut haben, an sie zu glauben.“
Er schrieb über seine Reisen nach Al-Qantara, über die Menschen, die er getroffen hatte, über die Hoffnung, die er dort gefunden hatte. Und er schrieb über seine Erkenntnis, dass Politik im besten Sinne nicht die Kunst der Macht ist, sondern die Kunst, Menschen zu helfen, das Beste in sich zu entdecken.
„Am Ende,“ schloss er den Brief, „geht es nicht um Parteien oder Ideologien. Es geht darum, dass Menschen lernen, menschlich zu sein. Das haben Sie gewusst. Das haben die Menschen in Al-Qantara gelernt. Und das ist die einzige Hoffnung, die wir haben.“
Er speicherte den Brief, aber schickte ihn nicht ab. Es gab niemanden, an den er ihn hätte schicken können. Aber das war auch nicht nötig. Das Schreiben selbst war genug gewesen.
Drei Monate später
Samuel erhielt einen überraschenden Anruf. Das Österreichische Parlament lud ihn ein, beim Gedenktag für Bruno Kreisky zu sprechen. Es war eine große Ehre für einen Mann, der nie ein hohes politisches Amt bekleidet hatte.
Der Redoutensaal der Hofburg war voller Menschen: Politiker aller Parteien, Diplomaten, Journalisten, Bürger. Samuel stand am Rednerpult und blickte in die Gesichter. Viele waren ihm bekannt aus Jahrzehnten gemeinsamer politischer Arbeit. Andere waren jung und schienen neugierig auf das, was er zu sagen hatte.
„Meine Damen und Herren,“ begann er, „Bruno Kreisky hat einmal gesagt, die Aufgabe der Politik sei es, die Hölle zu verhindern. Heute möchte ich hinzufügen: Die Aufgabe der Politik ist es auch, den Himmel möglich zu machen.“
Er erzählte von Al-Qantara, von den Menschen, die er dort kennengelernt hatte, von der Hoffnung, die er dort gefunden hatte. Er sprach von der Brücke, die Menschen bauen können, wenn sie aufhören, einander als Feinde zu betrachten.
„Kreisky war seiner Zeit voraus,“ sagte er. „Er hat Dinge gesehen, die andere noch nicht sehen konnten. Er hat Brücken gebaut, auch wenn andere sie einreißen wollten. Und heute, Jahrzehnte nach seinem Tod, sehen wir: Er hatte recht. Seine Vision lebt weiter, nicht nur in Österreich, sondern überall dort, wo Menschen den Mut haben, aufeinander zuzugehen.“
Als er geendet hatte, herrschte eine ungewöhnliche Stille im Saal. Dann erhob sich der Bundespräsident und begann zu applaudieren. Einer nach dem anderen standen die Menschen auf, bis schließlich der ganze Saal applaudierte – nicht nur höflich, sondern bewegt.
Nach der Rede kamen viele zu ihm. Junge Politiker, die seine Botschaft als Auftrag verstanden. Alte Weggefährten, die sich an gemeinsame Kämpfe erinnerten. Diplomaten aus verschiedenen Ländern, die wissen wollten, wie die Lehren von Al-Qantara auf andere Konflikte übertragen werden könnten.
„Was ist Ihr nächstes Projekt?“ fragte eine Journalistin.
Samuel lächelte. „Ich bin zweiundachtzig Jahre alt. Mein nächstes Projekt ist es, so lange zu leben, dass ich sehen kann, wie sich die Ideen von Al-Qantara in der Welt ausbreiten.“
Ein Jahr später
Samuel Goldstein saß wieder auf einem Balkon, diesmal in seinem Wiener Wohnzimmer. Vor ihm lagen Zeitungen aus aller Welt. Die Nachrichten waren gemischt, wie immer. Es gab Kriege und Katastrophen, aber auch Hoffnungszeichen: ein Friedensabkommen in einem afrikanischen Land, eine gemeinsame Umweltinitiative in Südamerika, eine Verständigung zwischen verfeindeten Nachbarn in Asien.
Auf seinem Tisch lag ein Brief aus Al-Qantara. Yusuf Mansour, der ehemalige Fußball-Torwart, schrieb, dass er geheiratet hatte – eine junge Israelin namens Talia. Ihre Hochzeit war ein großes Fest gewesen, gefeiert von Familien beider Seiten, ein Symbol für das neue Al-Qantara.
„Sie hätten dabei sein sollen,“ schrieb Yusuf. „Es war nicht nur eine Hochzeit, es war ein Volksfest. Eine Botschaft, dass Liebe stärker ist als Hass, dass Zukunft wichtiger ist als Vergangenheit.“
Samuel lächelte und legte den Brief beiseite. Dann öffnete er sein Laptop und begann zu schreiben. Nicht an einem neuen Buch – er hatte alles gesagt, was er zu sagen hatte. Aber an seinem Tagebuch, das er seit seiner ersten Reise nach Al-Qantara führte.
„Heute ist mir klar geworden,“ schrieb er, „dass mein Traum auf dem Balkon in Jaffa gar kein Traum war. Es war eine Vision. Eine Vision von dem, was möglich ist, wenn Menschen aufhören zu glauben, dass sie Feinde sein müssen.“
Er pausierte und blickte hinaus auf Wien, seine geliebte Stadt, die ihn sein ganzes Leben lang beherbergt hatte. Die Lichter gingen an in den Häusern, Menschen kehrten von der Arbeit heim, Kinder spielten auf den Straßen. Ganz normale Szenen eines ganz normalen Abends.
„Bruno Kreisky hatte recht,“ schrieb er weiter. „Man muss an die Vernunft glauben, auch wenn die Vernunft schwach ist. Aber er hätte noch hinzufügen können: Die Vernunft wird stärker, wenn Menschen beschließen, sie gemeinsam zu leben.“
Er speicherte das Dokument und klappte den Laptop zu. Draußen war es dunkel geworden, aber die Stadt leuchtete im warmen Schein der Straßenlaternen. Irgendwo in der Ferne hörte er Musik – vielleicht ein Straßenmusikant, vielleicht ein Radio in einem offenen Fenster. Es war eine schöne Melodie, voller Hoffnung und Lebenslust.
Samuel lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. In seinem Kopf sah er wieder die Bilder von Al-Qantara: den Hafen von Gaza mit seinen Containerschiffen, die Entsalzungsanlage in der Negev-Wüste, die Versöhnungshalle in Ramallah, das Parlament in Jerusalem. Und überall die Menschen – junge und alte, Palästinenser und Israelis, die gelernt hatten, dass Unterschiede nicht trennen müssen, sondern bereichern können.
Es war kein perfektes Land. Es gab dort Arbeitslosigkeit und politische Streitigkeiten, Umweltprobleme und gesellschaftliche Spannungen. Aber es war ein Land, in dem Menschen gelernt hatten, ihre Konflikte mit Worten statt mit Waffen zu lösen. Ein Land, in dem Kinder verschiedener Herkunft zusammen zur Schule gingen und gemeinsam träumten.
Und das, dachte Samuel, während er langsam einschlief, war schon ein kleines Wunder. Ein Beweis dafür, dass die Brücke von morgen keine Utopie bleiben musste, sondern Realität werden konnte – überall dort, wo Menschen den Mut hatten, aufeinander zuzugehen.
Die Vernunft war nicht schwach. Sie brauchte nur Zeit.
„Man muss an die Vernunft glauben, auch wenn die Vernunft schwach ist.“ – Bruno Kreisky
„Die Aufgabe der Politik ist es nicht, den Himmel zu versprechen, sondern die Hölle zu verhindern – und Brücken zu bauen für alle, die bereit sind, sie zu überqueren.“ – Samuel Goldstein, Die Brücke von Morgen
„Wenn die Welt in Asche liegt, muss man lernen, die Asche zu säen. Nur dann kann ein Morgen entstehen.“ – Aus den Notizen Samuel Goldsteins, Jaffa 2023